Wie präzise sollte Werbung heute sein?

Targeting vs. Streugewinne

Was ist besser: die Vermeidung von Streuverlusten oder deren Betrachtung als Streugewinne? Diese Diskussion wurde im August durch den Procter & Gamble Marketingchef Marc Pritchard ausgelöst mit der Interviewaussage: “We targeted too much, and we went too narrow.” Die Aussage überraschte auch, weil gerade Pritchard schon 2014 in Zweifel gezogen hatte, ob künftig Massenkommunikation überhaupt noch eine Daseinsberechtigung in der Werbung hat.

In der Debatte bezeichnete z.B. Mediaplanungs-Altstar Thomas Koch das Targeting in sozialen Medien als armselig. Vertreter der klassischen Medien beeilten sich zu betonen, dass hohe, aber undifferenzierte Reichweiten im Zweifel mehr bringen, als kleinere, aber dafür präzisere Kampagnen. Ende September differenzierte der P&G Markenchef seine Äußerungen: Massenprodukte für Jedermann wie z.B. Zahnpasta brauchen eine möglichst breite Sichtbarkeit, während Nischen- Produkte für z.B. Schwangere ein sehr präzises Targeting benötigen.

Die digitale Revolution erfasst immer mehr Medien und eröffnet damit die Möglichkeit zum Targeting. Ob Out-of-Home, Addressable TV oder digitales Radio: immer mehr Marketing-Kanäle können programmatisch gesteuert werden und damit die Zielgruppe präziser ansprechen. Online-Marketing ist zwar der Vorreiter, aber Targeting ist längst kein reines Internet-Thema mehr. Unter welchen Voraussetzungen macht Targeting also Sinn? Einer Antwort kann man sich über fünf Fragen nähern:

 

1. Sind Streuverluste eigentlich Streugewinne und damit eigentlich ein Vorteil klassischer Massenmedien?
Dass Massenwerbung zu Streuverlusten führt, ist unvermeidlich und seit über 100 Jahren ein Allgemeinplatz. Bei einer breiten Ansprache erreicht die Werbebotschaft zwangsläufig auch Personen außerhalb der Zielgruppe. Werbetreibende haben sich hieran gewöhnt, aber es blieb ein latentes Ärgernis. Deshalb planen und optimieren Mediaagenturen Kampagnen mit immer komplexeren Systemen zur Vermeidung von Streuverlusten. Der steigende Wettbewerbsdruck in engen Märkten sowie der immer höhere „Noise Level“ in der Kommunikation verstärken den Effizienzdruck im Marketing. Gerade die steigende Zahl an Werbeanstößen, denen sich der Konsument in den verschiedenen Medien ausgesetzt sieht, mindert die Akzeptanz für Werbung und damit auch die Aufnahmebereitschaft. Zeitgleich verändert sich die Medienlandschaft: gibt es angesichts der zunehmend fragmentierten Mediennutzung, sinkenden Quoten und bröckelnden Auflagen überhaupt noch echte Massenmedien wie vor 20 oder 30 Jahren?

Die allermeisten Produkte und Angebote haben eine klar definierte Zielgruppe. Das ist für ein trennscharfes Markenbild auch gut so. Es gibt Marken, die aus produktinhärenten Gründen auf eine bestimmte Zielgruppe zielen: Damenrasierer werden nicht von Männern benutzt, der Abschluss von Bausparverträgen macht im Alter von 25-40 Jahren am meisten Sinn, Neuwagen von deutschen Premium-Herstellern wenden sich an gehobene Einkommensklassen. Selbst Massenprodukte, die jeder braucht, werden im Marketing so positioniert und ausdifferenziert, dass sie möglichst präzise ihre Zielgruppe ansprechen. Auch die Kommunikation zielt meist auf eine ganz bestimmte Zielgruppe, z.B. Neukunden oder Intensivverwender. Insofern ist die Betrachtung von Streuverlusten als Streugewinn ein klarer Euphemismus.

 

2. Eignet sich Targeting nur für Nischen oder auch für den Massenmarkt?
Zahnpasta, Deo, Waschmittel, Nudeln, Schokolade etc.: natürlich gibt es Produktkategorien, die jeder braucht. Das bedeutet aber nicht, dass auch tatsächlich jeder zur Zielgruppe gehört. Freixenet und Mumm sind z.B. zwei Sektmarken, aber völlig unterschiedlich positioniert sind. Und selbst wenn eine Marke wirklich ALLE Nutzer ansprechen möchte, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass jeder Nutzer genau gleich emotional angesprochen bzw. mit den gleichen USPs überzeugt werden kann. Im Zeitalter der Massenkommunikation blieb den Kreativen nichts anderes übrig, als den einen verbindenden Ansatz für alle zu finden, gewissermaßen der kleinste gemeinsame Nenner. Die Gefahr von austauschbaren, zu glatten Markenbotschaften steigt. Was für keinen wirklich falsch ist, ist auch für niemanden wirklich richtig.

Ein Ausweg kann eine Differenzierung der Kommunikation für unterschiedliche Zielgruppen, aber für die gleiche Marke sein. Denken wir z.B. an die gefeierte „Supergeil“-Kampagne von Edeka, ist es durchaus plausibel, dass diese Kreation für jüngere Zielgruppen genau richtig ist, während sie für konservativen Milieus für Unverständnis oder gar Irritation sorgt. Targeting ermöglicht diese kreative Differenzierung durch eine zielgenaue Ausspielung der jeweils passenden Botschaft an ihr Zielsegment und kann so Werbung zu mehr Relevanz verhelfen.

Ob nun das Aufspüren des kleinesten gemeinsam Nenners als eine Kreation für alle oder eine Ausdifferenzierung in viele verschiedene Variationen: Markenführung ist in beiden Fällen nicht einfach. Die Herausforderung bleibt, ein konsistentes Markenbild zu entwickeln.

 

Wie stark steigen die Kosten durch Targeting?
Bisher galt: Spezifische Medialeistungen kosten immer mehr als eine unspezifische, breite Streuung der Kampagne. Daran haben die Medien allein schon deshalb ein großes Interesse, da sonst das Risiko besteht, dass Kontakte mit bestimmten Nutzergruppen (z.B. mangels Kaufkraft) keine Abnehmer finden. Da die Preisbildung im Online-Marketing (z.B. bei Google, YouTube oder Facebook) meist im Auktionsmodus verläuft, können Preisaufschläge für Targeting nicht direkt abgelesen werden. Der Preis für bestimmte Zielgruppen richtet sich nach Angebot und Nachfrage. Stark nachgefragte Zielgruppen können teurer, andere aber auch preisgünstiger werden. Damit ist auch die alte Diskussion über das richtige Alter werberelevanter Zielgruppen (bis 49 oder 59 Jahre) obsolet: wenn viele Marken eine Bewerbung von älteren Nutzergruppen weniger relevant finden, werden diese günstiger, während jüngere Zielgruppen teurer werden.

Targeting birgt allerdings noch weitere Herausforderungen: So ermittelt z.B. die Romeo Reboot-Kampagne von AXE aus Big-Data-Algorithmen die perfekte Spotvariante aus 100.000 Variationen. Zu den Mediakosten kommen noch Kosten für Kampagnensteuerung sowie für die Adaption der Kreation auf einzelne Zielgruppen. Der zusätzliche Aufwand kann je nach Komplexität des Targeting durchaus 20 Prozent und mehr betragen. Solange die Effizienzgewinne aus der Vermeidung von Streuverlusten höher sind als die Zusatzkosten, ist das aber kein Problem.

 

Wie stark schränkt Targeting die Gesamtreichweite einer Kampagne ein?
Wenn eine Marke in der Summe alle potentiellen Kunden, aber differenziert nach Segmenten mit unterschiedlichen Motiven erreichen möchte, bleibt die Gesamtreichweite identisch. Facebook erreicht in Deutschland z.B. insgesamt 29 Mio. Menschen, hiervon 15 Mio. Männer und 14 Mio. Frauen. Solange dieses (zugegeben einfache) Targetingkriterium für alle Nutzer vorliegt, können Männer und Frauen mit speziell zugeschnittenen Werbemitteln zielgerichtet angesprochen werden und trotzdem die gleiche Gesamtreichweite erzielt werden, wie bei einer undifferenzierten Kampagne.

 

Wie zuverlässig lassen sich Zielgruppen überhaupt targeten?

Die Zuverlässigkeit hängt stark davon ab, wie spezifisch die Zielgruppe ist. Soll z.B. eine Social Media Kampagne einfach auf das Geschlecht oder Alter ausgerichtet werden, ist die Zuverlässigkeit recht hoch. Spezifische Targeting-Kriterien sind aber oft nicht vollständig oder ausreichend aktuell verfügbar oder basieren auf einem flüchtigen Interesse. Im verhaltensabhängigen Behavioural Targeting werden z.B. Nutzer als koch- oder automobil-affin eingestuft, sobald diese eine Website für Kochrezepte oder Neuwagentests genutzt haben. Damit Nutzer nicht durch eher zufällige, einmalige Kontakte in eine Interessengruppe einsortiert werden, bedarf es größerer Datenmengen und entsprechender Algorithmen. Deshalb haben sich auch die großen deutschen Medienhäuser wie Gruner+Jahr, Bauer, Burda, Springer, IP und SevenOne zum AdAudience-Netzwerk zusammengeschlossen. Hier können übergreifend über alle Medien die Interessen der Nutzer ermittelt und gleichzeitig über das größere verfügbare Inventar zielgerichtet angesprochen werden. Der Umfang der Datenpools sowie der für die Werbeausspielung verfügbaren Inventare sind also entscheidend für Präzision und Reichweite bei Targeting-Kampagnen.

Sollte ein Markenartikler also jetzt in Targeting investieren, um weitere Erfahrungen zu sammeln? Unbedingt ja, denn Targeting wird ohne Zweifel die unspezifische Massenkommunikation in den nächsten Jahren sukzessive ablösen. Der souveräne Umgang mit Daten, Umfeldern und Optimierungsverfahren ist ein wichtiger Wettbewerbsvorteil. Zugegebenermaßen funktionieren noch nicht alle neuen Konzepte und Technologien bereits jetzt reibungslos. Insbesondere im Zusammenspiel von Kreation, Nutzerdaten und Media bleibt noch viel zu tun. Wer aber jetzt jammert, dass Targeting immer noch „armselig“ sei, sollte nicht vergessen, dass über Jahrzehnte fünfzig Prozent der Werbegelder als hinausgeworfenes Geld galten. Selbst ein nur eingeschränkt funktionierendes Targeting kann so schlecht kaum sein. Und dann gilt noch das andere Zitat von Henry Ford: „Wer nicht wirbt, stirbt!“.